Zugegeben, ich bin auch ganz subjektiv betrachtet weder ein Fan von Goethe noch von Grass – ob als Schullektüre oder generell. Und wo wir einmal dabei sind, auch nicht von Brecht und Fontane. Dennoch halten die Namen in der Headline des Artikels eher her, um einen Punkt zu verdeutlichen: Es gibt richtig viel gute Literatur da draußen, die leider nicht in der Schule besprochen wird. Stattdessen sieht Schullektüre noch immer vor allem so aus: Alter weißer Mann 1, alter weißer Mann 2, nicht ganz so alter aber trotzdem weißer Mann (3), … – you got the point. In diesem Artikel möchte ich Alternativen vorschlagen. Also wirklich gute Bücher von Frauen, von BIPoC, von Menschen mit Behinderungen etc.
Schullektüre – aber bitte zeitgemäß!
Klar, schrieben auch Goethe und Co Figuren aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, viele (die meisten) berühmten Frauenfiguren wurden von Männern geschrieben. Aber der Punkt ist: Sie behalten dabei eben doch stets ihre eigene Perspektive bei. Dabei ist es nicht nur ungemein spannend und wertvoll, andere Perspektiven zu ergänzen – es ist auch notwendig. Warum, das möchte ich an einem kleinen Beispiel erklären: Ich trage eine Brille. Und wie auch immer das möglich ist, aber sie ist ständig schmutzig, obwohl ich sie eigentlich nicht wunderweißwieoft betatsche. Außerdem beschlägt sie wenn es draußen kalt ist und ich einen beheizten Raum betrete. Trotzdem lese ich davon so gut wie nie etwas in Büchern. Weil Autor*innen, die keine Brille tragen, sowas zwar vielleicht wissen, aber am Ende dann doch nicht dran denken.
Jetzt nehmen wir mal an, wir reden über weniger banale Dinge als meine minus zwei Dioptrien. Zum Beispiel über Behinderungen oder Rassismuserfahrung. Das sind zwei leider sehr reale Themen, über die viele Menschen auf dieser Welt sehr real aus eigener Erfahrung berichten können. Eine Perspektive, die aber leider so gut wie gar nicht in der Schule behandelt wird. Es aber sollte. Also liebe Deutschlehrer*innen – wollt ihr mal einen Blick auf diese Bücher werfen und sie ggfs. für eure Schullektüre im Hinterkopf behalten?
Fünf Bücher für die Schullektüre
Daniel is Different – Wesley King
Äußerst nachdenklich und etwas traurig, aber auch lustig und auf jeden Fall zielgruppengerecht hat Wesley King mit “Daniel is Different” einen sehr interessanten Roman über Zwangsstörungen geschrieben. Der Roman lässt sich unabhängig von Wesley Kings Roman “Sara auf der Suche nach Normal” lesen, baut aber indirekt auf diesen auf. Beide Bücher liefern einen spannenden Eindruck in die eh schon nicht sehr leichte Phase des Erwachsenwerdens – und fokussieren sich auf neurodivergente Charaktere, die versuchen, mit einer für sie nicht wirklich optimierten Welt klar zu kommen.
Der Roman wurde von Claudia Max ins deutsche übersetzt und erschien im Januar 2021 im Magelan Verlag (ISBN: 978-3-7348-8218-0).

Klappentext: Bloß nicht auffallen! Nach dieser Devise lebt Daniel, der einfach nur ein ganz normaler Dreizehnjähriger sein will. Deswegen hofft er die meiste Zeit, dass niemand seine komischen Angewohnheiten bemerkt – weder seine Familie noch sein bester Freund Max und schon gar nicht seine Traumfrau Raya. Als er plötzlich eine mysteriöse Nachricht erhält, ist es allerdings gar nicht mehr so leicht, sich zu verstecken. Und auf einmal wird aus Daniels Leben ein richtiger Krimi. Ein berührendes Jugendbuch ab 11 Jahren, das sich einfühlsam mit den Themen Zwangsstörungen, Anderssein und Freundschaft auseinandersetzt. (Quelle)
Als die Stadt in Flammen stand
Was passieren kann, wenn zwei Autorinnen unterschiedlichster Backgrounds gemeinsam ein Buch schreiben, zeigt “Als die Stadt in Flammen stand”. Kimberly Jones und Gilly Segal, eine Schwarze Autorin und eine weiße Autorin, zeigen überraschend kurzweilig und doch mit so heftigem Nachhall auf, wie schnell eine Situation bis aufs Äußerste eskalieren kann und wie sehr unser Gesellschaftssystem damit spielt, dass sich nichts daran ändert. Dabei sind die kurzen Kapitel abwechselnd aus der Perspektive der beiden Protagonistinnen geschrieben und ermöglichen damit viel Tiefgang. Das Buch eignet sich hervorragend, um sich dem Thema Rassismus zu nähern, die Mechanismen, die Ohnmacht und die Wirkweise zu verstehen – und zu hinterfragen. Das Buch wird vom Verlag für Lesende ab 14 Jahren empfohlen.
Der Roman ist unter dem Originaltitel “I’m not dying with you tonight” erschienen, wurde von Doris Attwood ins deutsche übersetzt und erschien im September 2021 im cbj Verlag (ISBN: 978-3-570-31463-0).

Klappentext: Ein schwarzes und ein weißes Mädchen. Eine Stadt in Flammen. Nur gemeinsam können sie überleben.
Lena hat Stil, einen coolen Freund und einen Plan. Campbell dagegen will einfach nur das Jahr an der neuen Schule schaffen. Als die Mädchen ein Footballmatch besuchen, geraten sie plötzlich in eine Masseneskalation. Eine Eskalation, die von Hass und Gewalt getragen ist und bei der sich beide unverhofft Seite an Seite wiederfinden. Lena und Campbell sind nicht befreundet. Doch das ist unwichtig, wenn die Stadt in Flammen steht und man aufeinander angewiesen ist, will man die Nacht überleben … (Quelle)
Farbenblind – Trevor Noah
Apartheid ist so ein Begriff, der in der Schule einfach viel zu kurz kommt. Irgendwie sowas historisches, den weißen Geschichtslehrer*innen ist es in der Regel unangenehm, zu lange auf dem eh schon kurzen Kapitel im Geschichtsbuch zu verweilen. Ein von Kolonialmächten geschriebenes Geschichtsbuch ist aber eh nicht das richtige, um sich mit diesem Regime Südafrikas auseinander zusetzen. Trevor Noah hingegen schafft das Unmögliche: Er skizziert diese ungreifbar schwere Zeit mit all ihren Rassismen und der Armut aus der Sicht eines Jungen, der mittendrin aufwächst – sich selbst. Und er schafft es mit einer humorvollen Leichtigkeit, die so fehl am Platze wäre, würde sich das Thema dadurch nicht erst recht in jeden Winkel des Denkens schleichen.
Im März 2017 als Übersetzung von Heike Schlatterer für den Blessing-Verlag erschienen. (ISBN: 978-3-89667-590-3)

Klappentext: Trevor Noah kam 1984 im Township Soweto als Sohn einer Xhosa und eines Schweizers zur Welt. Zu einer Zeit, da das südafrikanische Apartheidsregime „gemischtrassige“ Beziehungen weiterhin unter Strafe stellte. Als Kind, das es nicht geben durfte, erlebte er Armut und systematischen Rassismus, aber auch die mutige Auflehnung seiner “farbenblinden” Eltern, die einfallsreich versuchten, Trennungen zwischen Ethnien und Geschlechtern zu überwinden. Heute ist er ein international gefeierter Comedian, der die legendäre “The Daily Show” in den USA leitet und weltweit – ob Sydney, Dubai, Toronto, San Francisco oder Berlin – in ausverkauften Sälen auftritt. …(Quelle)
Das Tagebuch der Anne Frank
Als ich hörte, dass es echt Schulen gibt, die dieses Buch nicht in der Schullektüre haben, hat mein Herz einen langen Moment lang ausgesetzt. Mein erster Gedanke? “Wtf. Wollt ihr mich denn verarschen?” Für mich war so so klar, dass es ein Muss ist, dieses Buch zu lesen. Da es doch so viel mehr hilft, die abartigen und unvorstellbaren Gräueltaten des Dritten Reiches erahnen zu können als es die vielen Zahlen im Zusammenhang mit verschleppten, misshandelten und ermordeten Menschen jemals vermögen können. Und doch scheint es tatsächlich nicht überall der Fall zu sein. Ganz egal ob als Graphic Diary, in der kleinen Schmuckausgabe der Fischer-Reihe oder einer der anderen (autorisierten) Ausgaben: Dieses Buch gehört in den Unterricht.
NO GAME – Jetzt ist Schluss mit Schweigen! – Natasha Friend
Das herrliche Cover des Jugendromans von Natasha Friend legt es bereits nahe: Hier geht es um unterschiedliche Geschichten verschiedener junger Frauen. Wobei, unterschiedliche Geschichten? Ziemlich schnell werden die Lesenden in die Story geworfen und begleiten die Hauptfigur Nora, die quasi nackt mitten auf einem Golfplatz aufwacht. Obwohl sie keinen Tropfen Alkohol angerührt hat, kann sie sich an nichts erinnern, will die Situation auch am liebsten ganz schnell wieder vergessen. Sensibel und mit interessanten Perspektiven geht die Autorin auf ein sehr aktuelles Thema ein, denn schnell wird deutlich: Das war keineswegs ein Ausnahmefall in der idyllischen Kleinstadt. Stattdessen scheint es hinter der perfekten Fassade der fast schon klischeehaft tugendhaften Menschen zu brodeln, als immer mehr Frauen davon berichten, dass ihnen Drogen in die Getränke gemischt wurden…
Der Roman wurde von Jessika Komina und Sandra Knuffinke für den Maielan-Verlag ins deutsche übersetzt und erschien am 12. Juli 2022. (ISBN: 978-3-734-85064-6)

Klappentext: Nora steht unter Schock. Obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hat, wacht sie nach einem Jahrmarktbesuch halb nackt und vollkommen orientierungslos auf einem Golfplatz auf. Ein Mitschüler hat offenbar Schlimmeres verhindert, als er drei junge Männer in die Flucht geschlagen hat. Nora würde am liebsten alles vergessen, immerhin ist sie ja noch glimpflich davongekommen. Ihre beste Freundin Cam sieht das jedoch anders: Sie will, dass Nora an die Öffentlichkeit geht. Denn so ein Übergriff darf nicht ungestraft bleiben. Als klar wird, dass noch mehr Mädchen betroffen sind und eine Art perverses Spiel hinter den Vorkommnissen steckt, erkennt Nora schließlich: Das Schweigen muss gebrochen werden. Und so bringt eine Kampagne unter den Hashtags #nogame und #schlussmitschweigen die Kleinstadtidylle ins Wanken. (Quelle)
Weitere Romane, die ich als Schullektüre empfehlen möchte:
- One Of The Good Ones – Maritza & Maika Moulite (ab 14 Jahre, Loewe Jugendbücher, ISBN: 978-3-7432-1155-1)
- Wie du mich siehst – Tahereh Mafi (ab 13 Jahre, Fischer Kunder- und Jugendtaschenbuch, ISBN: 978-3-7335-0588-2)
- Frankly in Love – David Yoon (ab 14 Jahre, cbj Verlag, ISBN: 978-3-570-31453-1) Unter der ISBN: 978-0-241-52069-7 gibt es das Buch auch als angepasste Originalversion für den Englischunterricht (Level 3)
- Wenn ich genug bin – A. L. Kahnau (ab 12 Jahre, BoD, ISBN: 978-3-748-13065-9)
- Der Junge aus der letzten Reihe – Onjali Q. Raúf (ab 8 Jahre, Atrium Verlag, ISBN: 978-3-85535-630-0)
- Truth – bist du bereit für die Wahrheit? – Margje Woodrow (ab 14 Jahre, one Verlag, ISBN: 978-3-8466-0146-4)
- Das rote Band der Hoffnung – Lucy Adlington (ab 14 Jahren, Magelan Verlag, OSBN: 978-3-7348-5057-8)
Welche Bücher fehlen hier noch?
Euch fallen weitere Bücher ein, die in eine Liste mit Schullektüre gehören? Dann schreibt mir gern einen Kommentar unter diesen Artikel oder eine Mail an post@vielleichtaberdoch.de und ich ergänze die Liste gern um weitere wertvolle Tipps.