Einmal angenommen, die große Bibliothek von Alexandra würde noch heute stehen, hätte mächtige Allianzen auf der ganzen Welt geschmiedet und würde junge Menschen für eine Ausbildung einladen. Wie würde eine solche Welt aussehen, in der unzählbar viele Schriftstücke der Menschheit ausgelöscht wurden? In ihrer Dark-Academia-Pentalogie um die “Magische Bibliothek”* hat die us-amerikanische Autorin Rachel Caine dieses Szenario beschrieben. Angesiedelt an dieser bemerkenswerten Schnittstelle zwischen klassischer Fantasy und dystopischer Science Fiction zeigt die YA-Reihe auch eines: Ein harter Cut ist zwischen diesen fantastischen Genres gar nicht so leicht möglich.
Rachel Caine – eine hierzulande noch viel zu unbekannte Autorin
Über Rachel Caine bin ich leider viel zu spät gestolpert. Dabei war die 2020 verstorbene Autorin ein wahres Kraftwerk der fantastischen Literatur: Mehr als 56 Bücher hat sie in verschiedenen Genres veröffentlicht – nach und nach erscheinen immer mehr ihrer Bücher jetzt auch in deutscher Ausgabe. Dass der HEYNE Verlag für die Übersetzung die Originalcover der Young Adult Sci-Fi-Reihe um die magische Bibliothek von Alexandria* mehr oder weniger unverändert einkaufen wollte und konnte, hat mich dabei sehr gefreut. Sie wirken auf das richtige Maß düster-dystopisch und magisch-geheimnisvoll.
Und noch etwas ist großartig an dieser Reihe: Sie ist das perfekte Einstiegsfutter für all jene, die kein Science Fiction lesen, weil sie dabei ausschließlich an Star Wars und Dune denken. Und während beide Sagen grandios sind, bilden sie eben nur einen Bruchteil des Genres ab. Tinte und Knochen*, der Auftaktband der fünfteiligen Reihe, bietet einen gänzlich anderen Einstieg in das Genre und zeigt, dass die Unterteilung in klassische Fantasy, Dystopie und Science Fiction mitunter ziemlich schwierig ist. Oder anders gefragt: Ist es Magie oder doch Technik?
Wie weit gehst du, um Wissen zu schützen?
Der Ausgangspunkt der Geschichte ist schnell erklärt: Im London unserer Zeit lebt der 16-jährige Jess Brightwell als Sohn einer Schmugglerfamilie. Doch nicht etwa Rauschmittel oder ähnliches ist das Metier seiner Familie, sondern Bücher. In dieser Welt, in der die Große Bibliothek von Alexandria noch existiert, hat diese nämlich ein Monopol auf sämtliches Wissen – und den privaten Besitz von Büchern verboten. Damit regiert sie faktisch die Welt und das Narrativ der Menschheit. Schmugglerfamilien wie die von Jess agieren daher im Untergrund und handeln dort illegal mit Büchern. Um mehr Informationen über die Bibliothek zu erhalten, schleust sein Vater ihn schließlich für eine Gelehrt*innen-Ausbildung in die Große Bibliothek ein. Doch so ein Wissensmonopol baut sich nicht ohne düstere Geheimnisse und die Abwesenheit gewisser Moralvorstellungen auf…
Klappentext von Tinte und Knochen*
“Die Bibliothek von Alexandria ist die mächtigste Organisation der Welt. In jeder Stadt gibt es eine Zweigstelle, und die Bibliothekare sind einflussreiche Männer und Frauen, die über das Wissen der Menschheit herrschen. Der private Besitz von Büchern ist strengstens verboten. Jess Brightwell liebt Bücher, auch wenn er nur illegal mit ihnen zu tun hat. Er stammt aus einer Schmugglerfamilie, die Bücher auf dem Schwarzmarkt verkauft. Jess’ Leben ändert sich von Grund auf, als sein Vater ihn als Spion in den Orden der Bibliothekare eingeschleust. Jess reist nach Alexandria, um in der Großen Bibliothek seine Ausbildung zu machen. Dort kommt er einer gewaltigen Verschwörung auf die Spur – und stellt fest, dass den Großmeistern der Bibliothek ein einzelnes Buch mehr wert ist als ein Menschenleben …” (Quelle)

Wo Dark Academia drauf steht, ist auch Dark Academia drin?
Ich bin ja generell gern kritisch, wenn Autor*innen und Verlage meinen, Bücher unter Buzzwords und Bezeichnungen vermarkten zu müssen, weil sie gerade beliebt sind. Dass das aktuell vor allem jedwede Form des “Academia”-Trends beinhaltet, verstehe ich teilweise auch als persönlichen Affront aber bin alles in allem einfach von der Irreführung genervt. Umso mehr mochte ich, dass hier wirklich geboten wird, was versprochen wurde: Tinte und Knochen* ist ein solider Auftakt in ein komplexes Dark-Academia-Setting, in dem Wissbegierde und akademisches Interesse genauso im Fokus steht, wie die düsteren Machenschaften und Ränkeschmiede hinter den Mauern der Bibliothek. Es wird viel Wissen über die Bibliothek vorausgesetzt und auch technische Begriffe fallen nicht zu kurz.
Ich mochte dabei vor allem die Figuren um Jess herum – der auch ein spannender Protagonist ist, aber ich bin einfach selten “Team Protagonist*in”. Wenig überraschend, konnte mich die aus Oxford stammende Morgan dabei ziemlich schnell begeistern. Generell geht alles in dem Roman ziemlich schnell und ich bin gespannt, ob die Erzählung diese Geschwindigkeit aufrecht erhalten kann – oder sogar noch zulegt. Dadurch hat man als Lesende*r, trotz der bildgewaltigen Kulisse, an die man sich zu Beginn erstmal gewöhnen muss, das Gefühl, geradezu durch die Seiten zu fliegen.

Titel: Tinte und Knochen (Original: “Ink and Bone”)*
Autorin: Rachel Caine
Formate: Hardcover und eBook
Erschienen am 11. Mai 2023 bei HEYNE, übersetzt von Beate Brammertz
ISBN: 978-3-4532-7418-1
Kurzmeinung: Tinte und Knochen ist der gelungene Auftakt einer düsteren Young Adult-Science Fiction-Reihe vor bildgewaltiger Kulisse. Die große Bibliothek von Alexandria als Wissensmonopol in unserer Zeit ist ein großartiger Querschnitt fantastischer Genres und vereint Fantasy- und Steam Punk-Elemente mit dystopischen Dark Academia Vibes in feinster Science Fiction bei herausragenden Erzähltempo.
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* Das Rezensionsexemplar von “Tinte und Knochen” wurde mir freundlicherweise von der Verlagsgruppe Penguin Randomhouse kostenfrei zur Verfügung gestellt. Dies hat meine Meinung jedoch nicht beeinflusst.