Sprache ist Macht. Denn wer nicht sprechen kann, sich nicht wirklich in eine Diskussion einbringen kann, wird nicht gehört. Wie wichtig Sprache jedoch (gerade in einem feministischen Diskurs) ist, wird oft und gern unterschätzt. Als ich die neue Taschenbuchausgabe von Kübra Gümüşays “Sprache und Sein”* in den Händen hielt, habe ich damit gerechnet, vor allem mit neuen Eindrücken zu diesem Thema konfrontiert zu werden. Nicht gerechnet habe ich hingegen mit diesen wortgewaltigen Sprachmalereien, mit denen die einzelnen Essays des Buches teilweise sprachlos zurückgelassen haben.
Eine der schönsten Liebeserklärungen an die Sprache
Kübra Gümüşay ist eine Wortkünstlerin. Beeindruckend vielfältig widmet sie sich diesem schweren Thema und zeigt auf, wie Sprache unser Sein beeinflusst, wie sie dazu beiträgt, wer wir sind, wie wir wahrgenommen werden. Es ist die Mischung aus scheinbar banaler Beobachtung, interessanten Fakten und der Tiefe hinter ihren Worten, die zum Staunen einlädt.
Allein das erste Essay ist eine der schönsten Liebeserklärungen an die Sprache, die ich je gelesen habe. Und gleichwohl ist es keine dieser Erklärungen, auf denen die rosarote Brille thront. Doch gerade diese mitunter latente oft aber dröhnend laute Kritik an der Sprache, ihren Möglichkeiten und Grenzen – sowie den Käfigen, die sie dadurch kreiert, ist das gnadenlos Schöne daran. Denn Kübra Gümüşay erzählt in ihrem Buch auch, wie sich diese Grenzen durchbrechen lassen. Es ist keine ToDo-Liste, doch manchmal zwischen den Zeilen und auch hier mitunter sehr deutlich, zeigt sie, was ginge – wenn wir nur alle wollen würden.
Dabei ist dieses Buch eine schöne erste Instanz zu diesem “wollen würden”. Denn es macht die Barrieren sichtbar, die es zu überwinden gilt. Und das ist, wie wir wissen, der erste eklatante Schritt, um wirklich etwas ändern zu können.
Sprache und Sein – oder Schweigen und nicht-sein?
Das unterschiedliche Verständnis von Sprache ist die eine Ebene des Buches, die uns und unser Handeln, unsere Art, die Welt zu sehen, prägt. Die andere Ebene ist das Handeln oder nicht Handeln, dass aus dem Schweigen resultiert. Dem Schweigen aus Bequemlichkeit auf der einen Seite, dem Schweigen aus Notwendigkeit (etwa, weil Sprache eine Barriere ist) auf der anderen Seite. Kübra Gümüşay schafft es, diese Ebenen geschickt miteinander zu verweben. Sie zeigt auf, wie grundlegend verschieden unser Verständnis von Sprache sein kann. Sprache von anderen Bereichen des Alltags trennen zu wollen, kann also gar nicht möglich sein, sie hat Auswirkungen auf alles.
Neben z. T. ungewohnt neuen Einblicken und Sichtweisen durch die bildhaften Beispiele der Autorin, ist es dieser ganzheitliche kommunikative Ansatz, der mich in jedem der Essays fasziniert hat. Er macht nämlich vor allem deutlich, was passiert, wenn wir folgendes bemerken: Dass wir längst nicht alle zu gleichen Teilen den sprachlichen und damit auch inhaltlichen Diskurs mitbestimmen (können). Diese Selbstverständlichkeit aufzubrechen und diejenigen aufzuzeigen, die durch Sprache und das daraus resultierende Sein (und andersherum) ausgegrenzt werden, ist eine der wichtigsten Botschaften des Buches.
Klappentext von “Sprache und Sein” von Kübra Gümüşay
“Dieses Buch folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reDuziert. Nach einem Sprechen, das sie in ihrem Facettenreichtum existieren lässt. Nach wirklich gemeinschaftlichem Denken in einer sich polarisierenden Welt. Kübra Gümüsay setzt sich seit langem für Gleichberechtigung und Diskurse auf Augenhöhe ein. In ihrem ersten Buch geht sie der Frage nach, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. Sie zeigt, wie Menschen als IndiviDuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden – und sich nur als solche äußern dürfen. Doch wie können Menschen wirklich als Menschen sprechen? Und wie können wir alle – in einer Zeit der immer härteren, hasserfüllten Diskurse – anders miteinander kommunizieren?” (Quelle)
Am liebsten hätte ich einfach alles markiert
“Sprache und Sein” war auch deshalb für mich ein besonderes Buch, da ich lange nicht mehr das Bedürfnis verspürt hatte, überhaupt in einem Buch Markierungen vorzunehmen. Mal einen Klebezettel an der ein oder anderen Stelle – ja. Aber dieses Buch ist in seiner Sprache, in den Zusammenhängen, die es herstellt, einfach wundervoll. Ich hätte am liebsten auf jeder Seite mehrere Post-its hinterlassen und dazu einfach alles markiert.
Gleichwohl findet die Autorin nicht überall in feministischen Zustimmung. Journalist*innen und Autor*innen wie Ronya Othmann, Reyhan Şahin und Sineb el-Masrar äußerten wiederholt Kritik u. a. an Kübra Gümüşays unreflektierter Nähe zur islamistischen Regierung Erdogans. Diese Nähe ist für mich zumindest in “Sprache und Sein” nicht herauslesbar. Ich finde es aber wichtig, das im Hinterkopf zu behalten, um es in den feministischen Diskurs einsortieren zu können.

Titel: Sprache und Sein*
Autorin: Kübra Gümüşay
Formate: Hardcover, Broschiert und eBook
Erschienen am 11. Oktober 2021 bei btb (Ersterscheinung als hardcover bei Hanser Berlin)
ISBN: 978-3-442-77125-7
Kurzmeinung: Dieses bemerkenswerte Buch kommt mit starken und zugleich schönen Worten daher, um einen der wichtigsten Zusammenhang in unserem gesellschaftlichen Miteinander zu erklären: Sprache und Sein bedingen einander – in beide Richtungen.
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* Das Rezensionsexemplar von “Sprache und Sein” wurde mir freundlicherweise von der Verlagsgruppe Penguin Randomhouse kostenfrei zur Verfügung gestellt. Dies hat meine Meinung jedoch nicht beeinflusst.